LEIPZIGER VOLKSZEITUNG (Bücher Journal zur Leipziger Buchmesse) 21-22.03.1998

 

 

Er war im Warschauer Ghetto und hielt sich versteckt. Dann schien das Ende vor ihm zu stehen. Wladyslaw Szpilman wurde von einem deutschen Offizier entdeckt.

 
 

Ein Spielmann erzählt sein wunderbares Überleben

 

VON THOMAS MAYER

      Das  erste Wort gehört Wolf  Biermann: "Ein Mensch,der  in die Höllen des Holocaust geriet           und dennoch dieses  Inferno überlebte  muß ja ein Wunder auf  zwei  Beinen sein. Aber nicht        jeder kann es so tief und wahr, so traurig und so selbstironisch erzählen wie dieser Pianist und Komponist, also dieser jüdische Spielmann   mit dem polnischen Namen Wladyslaw Szpilman."
Ein Jahrhundert-Leben ist zu erzählen. Spielmann!   Was für ein Name für einen Musiker, für   einen Komponisten. Er wird   1911 in Sosnowiec geboren. Er   studiert Musik an der Chopin-   Hochschule für Musik Warschau   und an der Akademie der Künste    Berlin. Er schreibt rund 500 Lieder, Filmmusiken und sinfonische Werke und reist mit dem    Warschauer Klavierquintett um  die Welt. Heute lebt er hochbetagt in Warschau. Wo er auch  überlebte. Als einziger seiner Familie kommt Wladyslaw Szpilman mit dem Leben aus dem    Warschauer Ghetto davon. Gleich nach dem Krieg schreibt  er seine Erinnerungen an das "wunderbare Überleben" auf. Das Buch kommt heraus, verschwindet freilich bald wieder  aus den Buchhandlungen. Eine jüdische Geschichte ist nicht sonderlich gefragt im neuen Polen. Auch der auf ihr basierende Film  "Der Robinson von Warschau", zu dem berühmte Literaten wie    Czeslaw Milosz und Jerzy Andrzjewski das Drehbuch liefern ist  bald im Archiv verschwunden.
 AIso wird das Buch mehr als  50 Jahre vergessen. "Ich  will es nicht. Es interessiert mich  nicht mehr. Ich will diese Hölle  nicht noch einmal erleben" sagt Vater Wladyslaw zu seinem Sohn Andrzej. Der hält sich aber nicht  daran und entreißt es für die  Nachgeborenen der
Vergesenheit. Weil er überzeugt ist.  "... daß Vaters Geschichte erzählt werden muß. Gerade heute!". Andrzej lebt seit 15 Jahren in  Hamburg, er ist Zahnarzt und betreibt zudem ein Aufnahmestudio, verlegt CDs, jetzt auch vom Vater und dazu von Wolf Biermann. "Ich wußte lange nicht, was mein Vater erlebt hatte. Ich wußte segar nicht, daß ich jüdischer Abstammung war. Bis ich in Vaters Schrank suchte und das Buch fand. Das Leben spielt schon verrückt ..."
  Wladyslaw   Szpilman entgegnet: Ich habe meinem Sohn nie von meiner Familie erzählt. Er war so jung und führte ein so gutes Leben. Sollte ich ihm etwa Gift mitgeben? Daß die Mutter und der Vater und zwei meiner Schwestern und ein Bruder ins Gas von Treblinka geschickt wurden - warum sollte ich ihm das erzählen?"    Ein jüdischer Ghetto-Polizist sortiert den jungen Musiker 1944 aus der Reihe der Todgeweihten auf dem "Umschlagplatz", wo für die Ghetto-Juden,wie Vieh in stickigen Waggons zusammengepfercht, der Weg ins Verderben beginnt.
 Wladyslaw Szpilman ist bereit, heute in Warschsau die Stätten, die ihn erinnern an sein Überleben, wieder aufzusuchen. "Nach  dem Umschlagplatz fragen Sie  ihn bitte nicht", sagt Sohn  Andrzej. "Hier.sah Vater seine  Familie zum letzten Mal. Hier  stückelten sie ein Bonbon in  sechs Teile, damit jeder nochmal  etwas Süßes schmeckte.  Der junge hat den alten Szpil-  man - längst Wußte auch Wolf   Biermann von dem Buch - gedrängt, sein Überleben zu veröf-   fentlichen. Nicht nur, weil es von   einem Lebenswunder berichtet, sondern auch, weil es das Dasein  im Ghetto so eindringlich schildert."Wer weiß schon, was ein   Ghetto ist? Ein Lager? Ein Zuchthaus? Mein Vater beschreibt, wie   innerhalb dieses für heute undefinierbaren Raumes ein fast normales Leben stattfand. Wußten   Sie, daß in den Cafes sogar Jazz   gespielt wurde?"      Der Sohn fragt den Vater, ob er   das Buch, daß er vergessen wollte
noch mal lesen wird: "Nein! Weil ich die Hölle nicht noch mal überleben möchte. Du kannst mich dazu nicht zwingen". Wladyslaw Szpilman war  nach dem Krieg auch kein einziges Mal in Treblinka: "Dort wurde mir das Herz platzen." Jenseits dieser Schrekkensstätte befallen den alten Mann Selbstanklagen: ,,Warum habe gerade ich überlebt?" Warum? Weil ihm ein Wehrmachts-0ffizier das Leben rettet: Hauptmann Wilm Hosenfeld. In der Aleja Niepodleglosci 223 hat sich Szpilman die letzten Monate des Krieges versteckt. Oft nah dem Tod, geistert er wie ein Gespenst durch die Häuserblocks, immer Gefahr laufend, entdeckt zu werden. Ich saß auf dem Stuhl neben der Speisekammertür. Mit nachtwandlerischer Sicherheit fühlte ich plötzlich, daß mir die Kräfte fehlen würden, um dieser neuen  Falle zu entrinnen. Ich saß und ächzte und starrte dumpf auf den Offizier "... Machen Sie mit mir, was Sie wollen ..." - "Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu tun... Was sind Sie von Beruf?"  (Szpilman ergänzt sein Buch:"Er  Sagte wirklich: Sie!") - "Pianist..." Und: folgt dem Offizier. In  einem Raum stand ein Klavier:  "Spielen Sie etwas!" Szpilman  spielt Chopins Nocturne cis-Moll.  Mit dem selben Stück eröffnet er 1945 den Sendebetrieb des Rundfunks in   Warschau.     Was geschieht mit Wilm Hosenfeld? Er stirbt 1952 im Alter  von 57 Jahren. von den Russen   der geheimdienstlichen Tätigkeit   bezichtigt, trotz Intervention der   polnischen Regierung in einem   Gefangenenlager in Stalingrad. Für Andrzej ist damit das  Buch seines Vaters noch aus   einem anderen Grund wichtig: "Wir haben gute Kontakte zur  Familie Hosenfeld und können  deshalb Auszüge aus Wilms Tagebuch veröffentlichen."
Der Hauptmann in seinen Aufzeichnungen von 1942 bis 1944:      ,,Überall herrscht Terror,   Schrecken und Gewalt ...   Jetzt ist der letzte Rest der jüdischen Einwohner im Ghetto    ausgetilgt ...      Ein  SS-Sturmbannführer  prahlte damit, wie sie die Juden, die aus den brennenden Häusern stürzten, zusammengeknallt hätten...
Das ganze Ghette ist eine Brandruine...
Wir haben einen unaflöschlichen Fluch auf uns geladen...
Ich schäme mich, in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das Recht, vor uns auszuspucken ...    In Treblinka werden die Züge mit den Viehwaggons ausgeladen, viele der transportierten Menschen sind schon tot. Die Toten werden neben den Gleisen aufgeschichtet, die gesunden Männer müssen die Leichenberge wegschaffen, neue Gruben graben und die gefüllten zuwer- fen. Dann werden sie erschossen, Frauen und Kinder müssen sich entkleiden, werden in eine fahrbare Baracke getrieben und werden da vergast.    Wir sind alle mitschuldig."
                               Andrzej Szpilman sagt fragend: Die Aussagen widerlegen die These vom "Wir haben doch nichts gewußt", oder?"    Auch das letzte Wort hat Wolf   Biermann: "ln Yad Vashem, der   zentralen Gedenkstätte der Juden in Jerusalem, gibt es eine   "Allee der Gerechten". Dort wurden Bäumchen gepflanzt, immer   für einen "Goj", der in der Zeit   des Holocaust Juden gerettet hat.    Ich werde einiges versuchen,  damit dort bald ein Bäumchen    für Hauptmann Wilm Hosenfeld  wächst, bewässert mit den    Wassern des Jordans. Und wer   soll es pflanzen? Na, wer schon -   Wladyslaw Szpilman, und sein    Sohn Andrzej wird ihn dabei    stützen."      Darüber müte auch berichtet    werden!
 Wladyslaw Szpilman: Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939-1945. Aus dem   Polnischen von Karin Wolff. Econ   Verla8, Düsseldorf 1998, 240   Seiten, 39.80 Mark.   Die CD .Wladyslaw Szpilman -   Ein musikalisches Porträt" mit   Musik von Szpilman, Rachmaninow und Chopin ist im Buchhandel erhältlich, unverbindliche   Preisempfehlung.29.80 Mark.,
   Am Donnerstag (26.3.) ist Wladyslaw Szpilmann in Leipzig.   Abends diskutiert er mit Arno Lustiger, Hannes Heer, Wladyslaw Bartoszewski und Wolf Biermann.    (20 Uhr, Deutsche Bücherei)